Auszug aus dem Prolog
Juli
Langsam kam er wieder zu sich. Benommen und mit einem Schmerz in seinem Schädel, der wie ein eiserner Ring um seinen Kopf lag, eine Schraubzwinge, die enger und enger gedreht wurde. Als er sich die Stirn massieren wollte, spürte er den rauen Strick um seine Handgelenke. Etwas lag auf ihm wie die leichte Berührung einer kalten Hand. Plastikfolie? Er öffnete die Augen und sah nichts als Schwärze. Eine lichtundurchlässige Plane? Er leckte sich über die Lippen, ertastete getrocknetes Blut in seinem Haar. Die Plane gab etwas nach, als er dagegen drückte. Er versuchte vergeblich, sie loszuwerden. Es schien ein großer Plastiksack zu sein, in dem sein Oberkörper steckte. Er tastete nach dem Rand, doch von der Hüfte abwärts war er so fest umschnürt, dass er die Knie nicht richtig anwinkeln konnte. Etwas rieselte auf seine Lippen, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, und er spuckte aus. Auf der Höhe seines Mundes befand sich ein Riss in der Folie. Als er das Loch vergrößerte, fiel Erde auf sein Gesicht. Er hörte ein Prasseln. Wurde er zugeschüttet mit Erde?
Er drückte die Plane hoch, sodass die Erde zu beiden Seiten hinunterrutschte und das Loch wieder frei wurde. Wo zur Hölle war er? Und wie war er in diese beschissene Lage geraten? Er musste sich am Kopf verletzt haben und dann … verdammt, er konnte sich an nichts mehr erinnern … Nur ein Wort blitzte auf: SCHLAMPE. Doch er konnte nichts damit anfangen. Wichtiger war, wie er aus dieser Nummer raus kam!
Er stöhnte. »Hallo? Hallo!« Es klang verwaschen. »Issajeman?« Er rief, so laut er es vermochte.
Die Antwort war fortwährendes Prasseln.
Auszug aus dem 1. Kapitel
Neun Monate später
Montag, 25. März
Dominik entdeckte auf seinem Schreibtisch eine dünne Akte, die am Freitag noch nicht dort gelegen hatte. Er hatte seine Jacke erst halb ausgezogen, als es klopfte.
Nina Tschöke steckte den Kopf zur Tür herein. Ihre Augen hinter der modischen Brille wirkten klein, und ihre Kurzhaarfrisur war heute ohne Styling. »Morgen, Dodo. Nimmst du Frank Tillmann Herbst bald mal wieder in euer Büro zurück? Sagen wir … heute?«
»Wie geht es eigentlich deinem Bruder?«, fragte er.
»Lenk nicht ab!« Nina setzte sich auf Franks Schreibtisch und grinste. »Seitdem Ottfried und ich im Dienstwagen vor der Behindertenwerkstatt aufgetaucht sind und Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet haben, ist Kai der King dort.«
»Unser größter Fan, was? Du siehst müde aus.«
»Der geschätzte Kollege Herbst hat mich gestern Abend - oder soll ich sagen, Nacht? Na, jedenfalls hat er mich privat angerufen und mir sein Leid geklagt.«
»Frauengeschichten?«
»Frauengeschichten. Oder der Mangel daran. Nimmst du ihn zurück? Mein Büro ist sowieso zu klein. Frank und du … ihr hattet euch doch wieder versöhnt, oder?«
»Kann man so sagen. Wieso nervt er dich? Versucht er etwa wieder, mit dem Rauchen aufzuhören?«
»Nein, aber er hat den Blues. Seit Wochen. Ich brauche eine Pause!« Sie hielt ihm ihre gefalteten Hände flehentlich unter die Nase. »Sag einfach: Ja!«
»Ja.«
Sie rutschte vom Schreibtisch und winkte zum Abschied.
»Halt! Nicht so schnell. Andersen hat etwas über einen Vermisstenfall erzählt, der wieder aufgerollt wird? Der hatte erstaunlich gute Laune. Vermutlich, weil er die nächste Zeit nicht mir zusammenarbeiten muss.«
»Du magst ihn nicht, stimmt´s?« Nina musterte sich im Garderobenspiegel. »Du verzeihst ihm immer noch nicht, dass du die Mordkommission wegen Befangenheit verlassen musstest.«
»Falsch, Nina. Ich weiß, dass das damals nicht anders ging. Es ist Bent, der mir aus dem Weg geht, keine Ahnung, wieso. Also, worum geht es bei dem Fall?«
Ihr Blick begegnete seinem im Spiegel. Sie wandte sich um und deutete auf die Akte auf seinem Schreibtisch. »Vor etwa neun Monaten verschwand ein Mann namens Richard Heberlein. Ich habe damals Heberleins Beschreibung in die Datenbank für Vermisste eingegeben. Der Rechner hat bis heute keine Übereinstimmung von Heberleins Merkmalen mit denen unbekannter Toter oder nicht identifizierter Personen ausgespuckt. Der Mann war Anlageberater, hatte Schulden …«
»Der dümpelt vermutlich gerade auf einer Luftmatratze vor den Fidschi-Inseln, in einer Hand den Cocktail, in der anderen die Bikini-Schönheit, und freut sich, dass er den Koffer voll Geld hat retten können.«
»So sehen also deine Träume aus, Dodo. Ich schicke dir gleich Frank.«
Er grinste. »Das ist kein Ersatz. Das musst du doch einsehen.«
Sie zwinkerte ihm zu und verschwand.
Er schlug die Akte auf. Der achtunddreißigjährige Richard Heberlein wurde seit Juli des Vorjahres von seinen Eltern vermisst. Auch seine Lebensgefährtin Lara Kaspari war verschwunden, wie der Vermieter des Paares der Polizei mitgeteilt hatte. Kasparis Schwester, die in Bielefeld wohnte, hatte sie dagegen nicht vermisst gemeldet und als Grund angegeben, nur sporadisch Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Die Befragungen von Richards Eltern, seinem Bruder Wolfgang und dem Vermieter hatten ergeben, dass er öfter in Geldnot gewesen war, und vor seinem Verschwinden seine Miete nicht mehr hatte bezahlen können. Vor Kurzem wandten sich seine Eltern wieder an die Polizei, weil ein von ihnen engagierter Privatdetektiv zehn Tage zuvor Lara Kaspari in Ulm aufgespürt hatte. Der Detektiv hatte ihr eine Reihe von Fragen gestellt, die ihren Weg in die Polizeiakte gefunden hatten. Dominiks Blick blieb an einem Wort hängen: Schlampe.
Auszug aus dem 3. Kapitel
Mittwoch, 27. März
Der Teutoburger Wald hob sich dunkel vom Nachthimmel ab, an dem die ersten Sterne funkelten. Nina fuhr bis zum Ende der asphaltierten Straße, rumpelte ein paar Meter über den unbefestigten Weg und parkte den Dienstwagen am Waldrand. Ihre Scheinwerfer erfassten einen Igel, der ins Gebüsch huschte, bevor sie erloschen. Das Licht der nächsten Straßenlaterne reichte nicht bis hierher. Sie blieb im Auto, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Für alle Fälle steckte sie eine Taschenlampe ein, denn auch aus dem Haus von Rose Wildeboer, das hinter den Bäumen lag, drang kein Schimmer nach draußen.
Zweige knackten unter ihren Schuhen, während sie sich dem Haus vorsichtig näherte. Wildeboers VW-Bulli verdeckte den Hauseingang. War sie da? Nina duckte sich hinter dem Bulli. Heute Nacht schien der Frühjahrssturm Pause zu machen, der Wind raschelte etwas in den Blättern, ansonsten blieb alles dunkel und still. Nina wandte den Kopf. Bis zum Hühnerstall waren es etwa zwölf Meter. Sie sprintete los bis zu einem Verschlag, hinter dem sie sich versteckte. Die Viecher gackerten nicht einmal. Auch auf dieser Seite des kleinen Hauses drang kein Licht aus den Fenstern. Wildeboer schlief wohl schon.
Das Blatt des Spatens schimmerte hell im Mondlicht. Er lehnte an dem Verschlag wie bei ihrem ersten Besuch. Das umgegrabene Stück Erde befand sich im hinteren Teil des Gartens, noch hinter einem alten Apfelbaum. Sie nahm den Spaten und huschte zu dem Baum, suchte von dort aus den Saum des Rasens ab, wo er von einer verwilderten Hecke begrenzt wurde. Als sie die umgegrabene Stelle nicht fand, vergewisserte sie sich, dass im Haus noch immer alles dunkel war, und machte dann kurz die Taschenlampe an.
Das Rechteck hob sich dunkel von dem Rasen ab. Während sie die wenigen Schritte bis zu der Stelle ging, sanken ihre Schuhe in den feuchten Boden ein. Nachdem sie eine dreiviertel Stunde gegraben hatte, schmerzten ihre Arme. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und reckte die Schultern nach hinten. Bisher hatte sie nichts entdeckt, was darauf hindeutete, dass das hier etwas anderes als ein Beet war. Aber jetzt schon aufgeben? Das konnte sie später immer noch! Mit Kraft stieß sie den Spaten wieder in die Erde und traf mit einem hässlichen, metallenen Klingen auf etwas Hartes.
Ihr Herz begann zu pochen. Sie leuchtete kurz in die Grube und stellte fest, dass es nur ein Stein war. Sie atmete laut aus und schaufelte weiter. Der laute Beep-Ton einer Whats-App-Nachricht ließ sie zusammenzucken. Mist! Sie holte das Handy aus der Jackentasche.
Hey Nina, mein Date ist sexy! Ich schick Dir dann eine Karte aus dem Osterurlaub an der Ostsee…
Frank :-)
Sie schaltete rasch ihr Handy aus und blickte sich um. Im Haus schien sich nichts zu regen, es war nur eine kurze Tonfolge gewesen. Sie trieb den Spaten wieder in die Erde, und stieß mit einem dumpfen Klock erneut auf etwas Hartes. Der Strahl ihrer Taschenlampe irrte in der Grube umher, bis er auf …
Nina schluckte. Der Knochen hob sich bleich von der dunklen Erde ab. Er wies keine Fleischreste mehr auf. Sie tippte auf Unterarmknochen. Aber … konnte Richard Heberleins Leiche nach gerade mal neun Monaten bereits skelettiert sein? In der Erde schritt der Verwesungsprozess langsamer voran als an der Luft. Handelte es sich etwa um die Überreste einer älteren Leiche?
Als Licht hinter ihr aufflammte, ließ sie die Lampe vor Schreck in die Grube fallen.