Auszug aus dem 1. Kapitel (Sonntag, 15. Dezember 2013)
Elsbeth beugte sich über die Kaffeemaschine, die Härchen in ihrem fleischigen Nacken klebten vor Nässe, ihre helmartige Bobfrisur war in Auflösung begriffen. Die Frau schwitzte, wo sie ging und
stand. Sie war genauso fett wie ihr Mann, der irgendeine Herzgeschichte hatte. Selbst schuld, dachte Jakob. Sie wandte sich um und goss ihm schwungvoll Kaffee ein, der über den Rand des Bechers
schwappte. Dann legte sie ihm zwei getoastete Scheiben Weißbrot auf den Teller. Er massierte sich die Schläfen, trank Kaffee und knabberte mit wenig Appetit am trockenen Toast.
»Hast wohl ‘nen Kater, was?« Elsbeth lächelte, als freute sie dieser Umstand. »Und – wie seid ihr deine Tante Sarah gestern Abend wieder losgeworden? Das ganz große Aufgebot?«
»Ja, die Polizei war da, ein Krankenwagen und der gesetzliche Betreuer. Tantchen ist jetzt wieder in Gilead IV.«
»Da wird sie sicher ‘ne Weile bleiben. Hat ihre Medikamente wieder nicht genommen, wie?«
Jakob zuckte mit den Achseln.
»Und sonst – war die Party nach deinem Geschmack?« Ihr Blick aus den unnatürlich verkleinerten Augen hinter der dicken Brille hatte etwas Stechendes.
»Klar, nachdem Sarah weg war … super Nacht.« Er hob den Daumen. Er würde ihr ganz sicher nicht auf die Nase binden, was noch alles passiert war. Zum Glück hatten seine Eltern, die früh zu Bett
gegangen waren, nichts davon mitbekommen. Und noch wichtiger: Nachdem sie Lukas endlich rausgeworfen hatten, zog sich seine Schwester Maja mit ihren kichernden Girlie-Freundinnen in ihr Dachzimmer
zurück und merkte nicht, was später unten vor sich gegangen war. So war sie wenigstens eine Weile abgelenkt von ihrem Kummer.
Elsbeth schob ihm die aufgeschlagene Zeitung hin und tippte mit ihrem dicken Finger auf das Tageshoroskop. »Das solltest du besser lesen.«
Jakob seufzte. »Okay, okay.« Elsbeth mit ihrem Astrologie-Tick, sie ging nicht aus dem Haus, ohne vorher ihr Horoskop konsultiert zu haben. Er wusste, sie würde nicht lockerlassen, also griff er zur
Zeitung. Vormittag: Der Mond im Widder lässt Sie aktiv werden und stärkt ihre Willenskraft, ihren eigenen Weg zu gehen. Nachmittag: Der Mond macht Sie aber auch ungeduldig. Hüten Sie sich
vor voreiligen, unüberlegten Handlungen. Und beachten Sie: nicht jedem Menschen in Ihrer Umgebung ist zu trauen.
»Elsbeth, ist schon Nachmittag?«
»Elisabeth! Den Vormittag hast du verschlafen. Es ist gleich halb zwei.«
»Oh nein! Ich habe noch eine Verabredung, und da muss ich erst mal hinkommen.« Diese unangenehme Geschichte hatte er schon halb verdrängt.
Auszug aus dem 1. Kapitel
Sie näherten sich dem Zelt, aus dem gerade ein Mann seinen Kopf steckte. Dessen Overall-Kapuze war so fest zugezogen, dass nicht viel mehr als ein grauer Bart und eine ziemlich große Nase
herausschauten.
»Kripo?«
Sie nickten, und er verließ das Zelt, um ihnen Platz zu machen. Bei Sudhölters Hinweis auf einen großen Stein hätte Dominik aufmerksam werden sollen, doch der Anblick des zertrümmerten Gesichts des
Jungen traf ihn unvorbereitet. Neben ihm zog Bent scharf die Luft ein. Dominik würgte, er hatte sofort einen sauren Geschmack auf der Zunge, zwang sich, ruhig zu atmen, bis er sich etwas besser
fühlte. Die Züge des Toten waren nicht mehr zu erkennen, sein Gesicht eine einzige blutige Masse. Das Rot von großflächigen Blutflecken hatte das Weiß der hellen Jacke fast verschwinden lassen. Blut
färbte stellenweise auch das Laub auf dem Boden, vor allem in der Nähe der Körpermitte der Leiche.
Bent legte Dominik kurz die Hand auf die Schulter. »Ich habe so was auch noch nie gesehen«, sagte er leise. »Er hat sich jedenfalls gewehrt. Gegen Stichverletzungen, nehme ich an.«
Dominik nickte nur, er kämpfte weiter mit seiner Übelkeit. Hinter ihnen räusperte sich der Mann mit dem grauen Bart und der Adlernase und stellte sich als Rechtsmediziner Dr. Dr. von Ascheberg vor.
»Ich möchte gerne nach Hause. Also: Der Todeszeitpunkt liegt nicht länger als sieben bis zehn Stunden zurück, die Kopfverletzungen sind vermutlich postmortal zugefügt worden, denn sonst würde man
einen höheren Blutverlust im Bereich des Kopfes erwarten. Der Löwenanteil des Blutes, das er verloren hat, stammt aus den Wunden in Brust und Bauch.«
Dominik atmete tief durch. Er stand jetzt mit dem Rücken zu der Leiche, definitiv eine Verbesserung. »Können Sie schon Näheres zur Tatwaffe sagen?«
Dr. Dr. von Aschebergs graue, buschige Brauen ruckten nach oben. »Kann ich zaubern?«
Bent seufzte. »Schön … wann obduzieren Sie?«
»Nicht mehr heute Nacht, falls Sie das denken. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich melde mich.«
Dr. Dr. von Ascheberg stapfte davon.
»Diese Jacke ist ja regelrecht zerfetzt, das Gesicht … das sieht aus …« Dominik stockte.
»Wie overkill«, ergänzte Bent.
»Genau. Der Täter hat offenbar noch auf ihn eingestochen und eingeschlagen, als er längst tot war. Aber nicht nur das. Es sieht aus, als hätte jemand mit dem Gesicht die Identität des Opfers
auslöschen wollen. Das deutet auf eine persönliche Beziehung.«
Auszug aus dem 2. Kapitel (Montag, 16. Dezember)
Draußen auf dem Flur packte sie den überraschten Dominik am Arm. »Sie sind derjenige, der vorhin nachgehakt hat. Mein Mann glaubt das nicht, aber ich bin überzeugt, dass unsere Familie in Gefahr ist!
Bei uns ist eingebrochen worden, es fehlten aber keine Wertsachen, sondern Pokale, die Maja bei Reitturnieren gewonnen hat, und ein Teil von Jakobs Tennispokalen. Außerdem hing ein großes
Familienfoto an der Wand, ein Foto, das auf Leinwand gedruckt war. Die Leinwand war völlig zerfetzt, auch kleinere Familienfotos lagen zerrissen auf dem Boden. Tun so was normale Einbrecher – lassen
den Flachbildschirm und die teure Hifi-Anlage links liegen und zerstören Familienbilder?«
»Haben Sie das der Polizei gemeldet?«
»Ja, aber wir haben nur noch von denen gehört, dass es keine verdächtigen Fingerabdrücke gäbe, und sie bei der dürftigen Spurenlage wenig tun könnten.«
»Wissen Sie noch, ob es Einbruchsspuren an Türen oder Fenstern gab?«
»Nein!« Kerstin Heitbreder sah ihn eindringlich an. »Das ist es ja gerade, bei uns sind fast alle Türen mit einem Code gesichert! Wir haben den Code natürlich geändert und Sicherungen in die Fenster
einbauen lassen.«
»Das war richtig von Ihnen. Es muss also jemand gewesen sein, der den Code kannte?«
»Um ehrlich zu sein, habe ich bei dem Einbruch zuerst an Sarah gedacht, und dass mein Mann ihr mal den Code gegeben haben könnte. Aber Reinhold beteuert, das würde er nie tun. Und in der Nacht vor
Jakobs Verschwinden wurde sein nagelneuer MINI zerkratzt. Aber Sarah war zu dem Zeitpunkt schon in Gilead IV. Das alles kann doch kein Zufall sein, das hängt zusammen, meinen Sie nicht?«
Der Druck um seinen Arm wurde stärker. »Ein Insider also …«, sagte Dominik.
Auszug aus dem 9. Kapitel (Montag, 23. Dezember)
Schweiß strömte ihr übers Gesicht, und ihre Augen tränten. Sie hatte es geschafft, das Bett zwischen sich und den brennenden Teppich zu schieben, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis das Bettzeug
Feuer fing und dann das Holzgestell. Inzwischen erhellte nur noch das Feuer ihr Zimmer. Die Fotos vom letzten Familienurlaub an ihrer Pinnwand wellten sich vor Hitze. Glutflocken trieben im dichten
Rauch. Maja zerrte das Bett weiter hinter sich her. Sobald sie sich aufrichtete, musste sie husten, also blieb sie am Boden, den kleinen Schlüssel, der unter der Heizung gelandet war, fest im Blick.
Jetzt hatte sie ihn fast, nur noch wenige Zentimeter ...
Sie zog an dem Bett, aber ein Stuhl war im Weg, das blöde Ding blockierte alles, also musste sie zurück, den Stuhl beiseiteschieben. Sie strampelte mit den Beinen, versuchte ein paarmal, ihn
wegzutreten. Plötzlich zersprang der Glasschirm ihrer Schreibtischlampe. Der Papierkorb neben dem Schreibtisch hatte Feuer gefangen, die Flammen schlugen hoch und erfassten die Papiere auf ihrem
Schreibtisch, die sich einrollten und schwarz wurden. Ein Funkenregen ging auf sie nieder, es fühlte sich an, als ob Bienen ihr in Rücken und Arme stachen. Verzweifelt trat sie weiter, jetzt, endlich
fiel der Stuhl um, und sie schaffte es, das Bett noch ein Stück hinter sich her zu zerren.
Jetzt war der Schlüssel in Reichweite. Als ihn anfasste, schrie sie auf. Sie hatte sich die Finger verbrannt, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Mit zusammengebissenen Zähnen schob
sie ihn in das Schloss der Handschelle. Zweimal rutschte sie ab, ihre Finger waren glitschig vom Schweiß, dann schaffte sie es, die Handschelle aufzuschließen. Was jetzt?
Das Feuer loderte an den Tapeten hoch, fraß sich durch die Bücher im Regal, ließ das Kunststoffgehäuse der Wanduhr schmelzen und hinuntertropfen wie Honig, wälzte sich brüllend bis zur Decke. An den
Vorhängen leckten die Flammen, im nächsten Moment brannten sie wie Fackeln. Aber auch die Tür zum Flur brannte lichterloh, es gab keinen anderen Weg als den durchs Fenster! Sie richtete sich auf und
hatte im selben Moment das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Sie kauerte sich unter das Bett. Es war hoffnungslos! Außerdem war sie hier im ersten Stock. Sie würde springen müssen und sich die
Knochen brechen.
Alles besser als zu verbrennen! Röchelnd kam sie auf die Beine, hielt die Luft an und stieg auf die hölzerne Wäschetruhe unter dem Fenster. Rauch umhüllte sie, sie hatte keine Zeit zu verlieren. Auf
dem Fensterbrett kochte das Wasser in der metallenen Gießkanne, mit einer Bewegung fegte sie die Blumentöpfe und die Kanne vom Fensterbrett. Der Fenstergriff erwies sich als genauso heiß wie der
Schlüssel, stöhnend zuckte sie zurück und atmete Rauch ein. Sie zog ihren Ärmel über die Finger und wollte den Griff gerade noch einmal packen, als die Scheibe mit einem Knall auseinanderbarst, im
selben Moment fühlte sie einen unbeschreiblichen Schmerz in ihrem Rücken …