Prolog
Oktober 1986
Graues Morgenlicht fiel durch die Vorhänge der Blockhütte. Schnell schloss sie die Augen wieder, doch das Vergessen, das der Schlaf mit sich brachte, war ihr nicht mehr vergönnt. Dafür sorgte
schon ihr heftig juckender Handrücken, auf dem sich eine nässende Blase gebildet hatte. Es war kühl in der Hütte, die Fenster waren beschlagen. Minnesota im Oktober. Sie legte sich die Bettdecke um
die Schultern, tappte zu dem Eimer mit Wasser, der neben dem Fenster stand, und tauchte ihre Hand hinein. »Poison Ivy« nannten die Einheimischen das Zeug. Von ihrem ersten Praktikumsaufenthalt im
International Wolf Center wusste sie, wo der Strauch stand, aber vorgestern bei ihrer Ankunft war es passiert: Geistesabwesend hatte sie seine giftigen Blätter mit der Hand gestreift.
Sie hätte nicht zurückkehren sollen. Das hatte sie schon im Flieger gedacht. Felix hatte neben ihr gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Sie wechselten kaum ein Wort. Offenbar wollte er nicht
darüber reden, was geschehen war. Die Katastrophe. Sie hätte nicht wieder herkommen sollen, aber ihr war nichts Besseres eingefallen, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Dieselben Wege
zu gehen, die gleichen Dinge zu tun. Wie eine Aufziehpuppe.
In der Baracke, in der die Mitarbeiter und Praktikanten das Frühstück einnahmen, konnte sie Felix nicht entdecken. Sie trank einen Becher dampfenden, dünnen Kaffee, betrieb Konversation, lachte an
den richtigen Stellen. Nur, dass es sich so anders anfühlte als vorher – anstrengend, als müsste sie ihre Gesichtsmuskeln in die richtige Position zwingen. Die begeisterte Wildtierökologin mimen, die
sie vor Kurzem noch gewesen war. Merkte man ihr die Anstrengung an? Sie war erleichtert, als sie endlich den Frühstücksraum verlassen konnte, ohne unhöflich zu wirken.
Heute war sie mit der ersten Fütterung dran. Als ein Kollege ihren Eimer mit blutigen Fleischbrocken füllte, wandte sie den Kopf ab. Früher war sie nicht so empfindlich gewesen. Sie machte sich auf
den Weg zum Gehege und sah schon von Weitem George, ihren Liebling, am Zaun stehen. Während sie sich mit dem Eimer näherte, fixierte George sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen, verfolgte jeden
ihrer Schritte. Sie hatte ihn schon als Welpen gekannt, er war zutraulicher als die anderen, manchmal sogar frech. Das hatte sie immer gemocht.
Jetzt verunsicherte sie sein Starren. Ihre Bewegungen wurden hölzern. Sie sagte sich, dass er ihren Geruch gleich erkennen würde, und trat an den Zaun. Die Tiere kamen vorsichtig heran, hielten
Abstand. George dagegen lief zu ihr, nahm Witterung auf, fixierte den Eimer, dann sie, dann wieder den Eimer.
Sie holte ein Stück Fleisch heraus, das Blut färbte ihren Handschuh rot. Plötzlich hatte sie ein Summen im Ohr, ein Bild erschien vor ihrem inneren Auge: Grünlich schillernde Fliegen auf einem
sonnengebräunten Gesicht … sie verschwanden in einem Nasenloch, ließen sich auf den ins Nichts starrenden Augen nieder, labten sich an dem Blut, das aus einem Ohr sickerte …
Ihr Herz klopfte wild, sie keuchte. Wann hörte das endlich auf mit den verdammten Flashbacks?
Wie von weiter Ferne hörte sie eine Stimme. Hey, Lady, throw it to him, damn it, over the fence, girl! Why don’t you …
Sie schrie auf. Ein scharfer Schmerz schoss von ihrer Hand bis hoch in den Arm. George war hochgesprungen, hatte nach ihrer Hand mit dem Fleischbrocken geschnappt und ihren Arm dabei über den Zaun
gerissen. Der Zaun bohrte sich in ihre Achselhöhle, während George an ihrer Hand zerrte. Um den Wolf von sich abzulenken, schleuderte sie den vollen Eimer mit der Linken über den Zaun. Wie auf
Kommando stürzten sich die Tiere auf die blutigen Fleischstücke.
Montag, 26. August 2013 (Auszug)
Der Morgen dämmerte herauf und tauchte die Dächer der Stadt in blutrotes Licht. Margret Lückner lag in ihrem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Sie gähnte so heftig, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, und warf einen Blick auf den Wecker: Er würde bald klingeln, also konnte sie genauso gut aufstehen. Seufzend warf sie die Decke ab. Seit halb vier hatte sie sich schlaflos im Bett herumgewälzt. Sie riss die Fenster auf, um die dumpfe Wärme aus ihrem Schlafzimmer zu vertreiben. Es schien ein sonniger Sommermorgen wie jeder andere zu werden. Sie ahnte nicht, dass es ihr letzter sein würde.
Ihr Yorkshire-Terrier wackelte zur Tür herein und sprang auf das Bett, um an den zerwühlten Laken zu schnüffeln. Roch er neben Schweiß auch den Gestank fruchtloser Grübeleien? »Runter, Orlando!«,
rief Margret.
Der Terrier sprang davon, fegte dabei Wasserglas und Schlaftabletten vom Nachttisch. Sie sammelte die Scherben auf und warf sie samt der halbvollen Tablettenschachtel in den Mülleimer in der Küche.
Die Tabletten wirkten sowieso nicht. Gähnend befüllte sie die Kaffeemaschine, der Kaffee lief röchelnd durch, sein tröstlicher Duft breitete sich in der Küche aus. Nichts half, weder Hörbuch, noch
progressive Muskelentspannung. Dabei hatte sie bis vor zehn Tagen noch geschlafen wie ein Baby. Die größte Aufregung in ihrem Leben hatte darin bestanden, dass einmal die Klimaanlage in ihrer
Privatbibliothek ausgefallen war. Über Derartiges konnte sie jetzt nur noch müde lächeln. Sie riss die Kaffeekanne aus der Maschine, der Rest Kaffee verdampfte zischend auf der Warmhalteplatte.
Gierig trank sie die erste Tasse.
Wieder musste sie an dieses »klärende Gespräch« denken.
Wie kannst du mir so etwas unterstellen? Eine Ungeheuerlichkeit, in der Tat. Sie war einen Moment lang unsicher geworden. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr hatte sich
ihr Bauchgefühl zur Gewissheit verdichtet. Orlando wackelte zögernd näher, sah mit traurigen Augen zu ihr auf. »Schon in Ordnung, mein Guter.« Sie beugte sich zu ihm, kraulte ihm den Nacken. Was
hatte sie von diesem Gespräch erwartet? Sie war zu naiv an die Sache herangegangen. Und … womöglich nicht nur an diese Sache?
Ihre Hand verharrte in Orlandos langem Fell. Der Lärm des Berufsverkehrs drang von der Werther Straße durch das geöffnete Fenster. Margret blinzelte in der grellen Morgensonne, ein Stechen über
ihrem Ohr kündigte Kopfschmerzen an. Das gleißende Sonnenlicht fiel auf die Bodenfliesen, die Küche wurde mit einem Mal zum überbelichteten Foto in hellen, künstlichen Farben. Orlando, der
Küchentisch, die Kaffeekanne, alles schien sich von ihr zu entfernen, das Bild wurde kleiner, als führe sie rückwärts durch einen Tunnel. Weiße Punkte tanzten vor ihren Augen. Sie stützte sich auf
der Anrichte ab, ließ sich dann auf einen Stuhl fallen. Ruhiger atmen, dachte sie, ruhiger …
Nach einer Weile verschwanden die hellen Punkte. Der Kreislauf. Sie brauchte ein ordentliches Frühstück, dann würde die Welt schon anders aussehen. Und immerhin hatte sie den Brief vor ein paar Tagen
auf den Weg gebracht. Sie überlegte, was sie damit auslösen könnte. Schlimmstenfalls … aber nein, es gab keinen anderen Weg.
Mittwoch, 28.August (Auszug)
Der Mann hatte etwas an sich, das ihm Respekt abnötigte. Lag es daran, dass er sichtlich todgeweiht war? Eine Holzdiele knarrte, als Dominik die Füße übereinanderlegte. Der Regen hatte nachgelassen, fiel jetzt lautlos wie ein Schleier auf das Tal herab.
»Haben Sie jemals eine Burgführung mitgemacht?«, fragte Achleitner.
»Ich war mal in den Kasematten der Sparrenburg …«
»Ich war zwölf, als ich das erste Mal eine Burgführung mitmachte«, sagte Achleitner. »Ich weiß nicht mal mehr, wo. Aber ich erinnere mich, dass ich zurückgeblieben bin, um mein Taschentuch anzuzünden
und es in einen tiefen Schacht fallen zu lassen. Ich habe zugesehen, wie es fiel, die Mauer beleuchtete, sich entfernte und schließlich versunken ist. Verloschen. So wie Toni. Manchmal stelle ich mir
vor, wie wohl das Ende der Welt aussieht. Wird alles mit einem Paukenschlag untergehen? Ein riesiger, greller Feuerball, der sich über die Erde wälzt? Oder wird es am Ende so sein, dass ein Licht
nach dem anderen verlischt, bis die Welt wieder in Finsternis versinkt?«
Der leise Donner klang blechern. Das Gewitter entfernte sich.
»Ich werde diese Welt bald verlassen. Aber Toni … er hätte nicht so früh gehen dürfen. Im Anschluss an die Bergtour wollte er mit uns seinen dreißigsten Geburtstag feiern. Manche Menschen sind wie
Schatten. Toni leuchtete. Warum also er? Gibt es irgendeine höhere Logik, einen Sinn hinter allem?«
Nein, dachte Dominik und schwieg. Er zog es vor, die Frage rhetorisch aufzufassen.
»Warum stirbt ausgerechnet jemand, der so begabt, liebevoll und tüchtig ist?«, machte Achleitner weiter. »Ein gut aussehender Bursche, der den Madln den Kopf verdreht, einer mit Aussicht auf eine
glänzende Karriere, noch dazu ein guter Bergsteiger. Wie kann das sein? Ich hab mich das mein Leben lang gefragt.«
Dominik nahm einen Schluck aus seinem Glas. Eine Fliege krabbelte über den blank gescheuerten Holztisch. »Haben Sie eine Antwort gefunden?«
Achleitners Augen waren ein Glitzern im Halbdunkel. »Das Böse.«
Dominik beugte sich vor, die Stille wurde vom Rascheln seines Hemds unterbrochen. »Sie wissen, das genügt uns nicht.«