Leseprobe "Nacht aus Eis"

Auszug aus dem 1. Kapitel

Samstag, 15. Dezember

 

Bis zu diesem Moment hatte Robin Domeyer sich für den glücklichsten Menschen in dieser Spießerstadt gehalten. Er  hatte  nicht  mehr  davon  geträumt,  nach  seinem  18. Geburtstag aus Bielefeld wegzugehen nach Hamburg oder Berlin, oder wenigstens von zu Hause auszuziehen. Hatte die Fifty-something-Nachbarin mit der Helmfrisur und der Steppbett-Jacke gegrüßt und der irritierten Dame das Gartentor aufgehalten, damit sie ihr Nikolaus-auf-dem-Schlitten-Lichtschlauch-Gedöns in den Garten schleppen konnte. Hatte in seinem Zimmer freiwillig Staub gesaugt, weil Anna ihn heute das erste Mal zu Hause besuchte. Bisher hatten sie sich immer nur bei Freunden mit einer eigenen Wohnung getroffen.

Würde sich Anna bedrängt fühlen, wenn er sie jetzt schon seinen Eltern vorstellte? Übrigens, das ist Anna, meine Freundin. Konnte er das machen? Zwischen ihnen war es ja noch gar nicht ausgesprochen, obwohl es sich so anfühlte.

Beim Schrillen der Klingel um zwanzig nach drei sprang er die Treppenstufen hinunter, damit niemand aus seiner Familie ihm zuvorkam. Er riss die Tür auf und lotste sie nach oben in sein Zimmer. Problem umgangen.

Anna strahlte ihn an, umarmte ihn lange. Alles fühlte sich warm und leicht an – bis zu dem Moment, in dem sie ihm eröffnete, dass sie diesen alten Knacker wiedertreffen werde. Ein letztes Mal. Natürlich wäre es vorbei mit dem. Der wolle nur eine Aussprache. Angeblich.

 

 

Auszug aus dem 2. Kapitel

  Sonntag, 16. Dezember

 

Aus den Wolken am Nachthimmel fielen große Flocken, schmolzen  auf  ihrem Gesicht. Sie  schloss das Bügelschloss an ihrem Rad auf. Die Angelegenheit wurde allmählich eklig. Dabei hatte sie nur nett sein wollen. Es schien nicht angekommen zu sein, im Gegenteil. Sie wischte die Schneehaube von Sattel – eine Menge Neuschnee für die eine Stunde, in der sie drinnen gesessen und geredet hatten. Geredet und sich im Kreis gedreht. Schließlich war es richtig blöd geworden, bis sie das Gespräch abgebrochen hatte. Sorry, aber das ging nicht anders.

Sie stieg aufs Rad und musste sofort mit dem Lenker austarieren, um nicht über einen Schneehaufen zu stürzen. Vorsichtig fuhr sie über die feste Schneedecke einer Nebenstraße. Als sie an einer Kreuzung vorbeikam, hörte sie das Brummen der Räummaschine, sah das flackernde, orangefarbene Licht. Der Schnee war schön. Trotzdem war es wohl besser, auf den Hauptstraßen zu fahren.

Sie bog auf die August-Bebel-Straße ein, achtete darauf, mit den Reifen nicht in die Schienen der Stadtbahn zu geraten, und überlegte, ob sie noch zu ihrer Freundin radeln sollte, bevor es nach Hause ging. Wieso musste Daniela fast am Ende der ewig langen Bleichstraße wohnen? Es war ein großer Umweg, aber sie würde heute Nacht bestimmt nicht so früh einschlafen können. Und sie brauchte jetzt jemanden zum Reden. Obwohl sie fand, dass sie das Richtige tat, wollte sie es sich von Daniela bestätigen lassen.

Sie fuhr bereits auf der Bleichstraße, als ihr das Auto auffiel, das langsam hinter ihr herrollte. Im grellen Licht der Scheinwerfer konnte sie niemanden erkennen, aber die Bullen waren es nicht. Warum auch? Das kaputte Rücklicht war wieder in Ordnung. Bestimmt irgendwelche Arschlöcher, die sich einen Spaß machen wollten, um ihr Angst einzujagen! Sie war versucht, ihnen den Stinkefinger zu zeigen, stöhnte aber nur genervt auf und trat fester in die Pedale. Sooft sie den Kopf wandte, sah sie, dass das blöde Auto weiter an ihr dranhing. Sie stieg vom Sattel auf, trampelte im Stehen, um schneller zu werden – mit dem Erfolg, dass sie ins Rutschen geriet. Auf diese Weise würde sie nicht entkommen. Der Wagen setzte an zum Überholen, lag jetzt gleichauf mit ihr, und sie erkannte, wer drin saß.

Plötzlich begriff sie.

Sie bremste abrupt, stürzte mit dem Rad Richtung Bürgersteig, hörte das Quietschen von Bremsen. Das Motorgeräusch erstarb und eine Autotür klappte. Ihr Knie tat höllisch weh, aber sie ignorierte es, rappelte sich auf, ließ das Rad liegen, und lief humpelnd los. Die Fenster in den Häuserfronten der Mehrfamilienhäuser waren dunkel und abweisend, die Bürgersteige leer, hier in dieser Gegend, im Winter, bei Nacht. Sollte sie um Hilfe schreien? Irgendwo klingeln? Sie blickte zurück, sah niemanden auf dem Bürgersteig, obwohl jemand ausgestiegen sein musste, denn der Kofferraumdeckel des Wagens war hochgeklappt.

Ein guter Moment, um zu verschwinden, entschied sie, schlug einen Haken wie ein flüchtender Hase, vom Bürgersteig auf einen Weg, der zwischen zwei Häusern hindurchführte in einen Hinterhof. Nein, es war wohl ein Garten, unter all dem Schnee war wenig zu erkennen,  abgesehen  von  ein  paar  Sträuchern  und  einem kleinen Schuppen. Sie humpelte darauf zu. Natürlich war die Scheiß-Tür verschlossen! Sie warf sich mit aller Macht dagegen, die Tür gab plötzlich nach, schrappte quietschend über den Boden. Sie stöhnte leise auf, aber im Garten war niemand zu sehen. Sie schlüpfte hinein, drückte die Tür vorsichtig hinter sich zu, so leise wie möglich.

Durch ein kleines Fenster drang Mondlicht. In den Geruch nach Staub und altem Holz mischte sich ein Hauch von Verwesung, als ob hier mal ein kleines Tier verendet wäre. Sie erkannte Umrisse von gestapelten Gartenstühlen, tastete sich an der Wand entlang, trat auf etwas, das leise schepperte, stieß mit der Schulter gegen ein Regal, tastete sich um das Regal  herum  und  drückte  sich  in  die  Ecke  dahinter.  Sie lauschte ihrem Schnaufen, bemühte sich, leise zu sein, bis ihr Atem sich etwas beruhigte. Einfach warten.

Niemand war ihr gefolgt, oder doch? Sie durfte sich nur nicht zu früh wegbewegen. Sollte sie sich hier etwas suchen, mit dem sie sich verteidigen konnte? Das Ding, auf das sie eben getreten war? Hier gab es doch sicher Gartengeräte, vielleicht eine Hacke, irgendetwas …

Was war das? Ein Knirschen im Schnee. Der Schnee, so ein Mist, ihre Fußspuren! Ihr Herz begann zu hämmern. Wieder knirschten Schritte, kamen langsam näher. Sie war erstarrt, hielt den Atem an, spürte, wie Schweiß ihren Nacken hinabrann. Es knirschte im Schnee, dann herrschte Stille.

Als ob ein Raubtier schnüffelte, Witterung aufnahm.

 

 

Auszug aus dem 6.Kapitel

 Donnerstag, 20. Dezember

 

Eine Stunde später blickte Bent an der schwärzlichen Fassade eines großen Altbaus hoch. Endlich summte der Türöffner. Das Treppenhaus benötigte dringend einen neuen Anstrich: Die trüb-gelbe Farbe war fleckig, an einer Stelle war neu verputzt und  nicht  gestrichen  worden.  Die  hübschen,  dunkelblauen Kacheln  mit  dem  Jugendstilmuster  verstärkten  diesen  Eindruck  nur  noch.  Er  stapfte  die  geschwungene  Treppe  drei Stockwerke hoch, bis er eine Tür mit einer Namensliste entdeckte. Der Zettel war einfach mit Tesafilm an der Zarge befestigt worden. Anstelle einer Gardine klebte ein Che-Guevara-Poster hinter der Scheibe. Er drehte die altmodische Türschelle. Ein Streifen Licht schimmerte unter der Tür durch. Gerade, als er noch mal klingeln wollte, öffnete ein schmächtiger, junger Mann mit Dreadlocks und Kinnbärtchen und sah ihn aus roten Augen fragend an. Ein mit Kaffeeduft vermischter würziger Geruch drang aus dem Flur der Wohnung.

»Andersen, Kripo Bielefeld.« Bent zückte seinen Dienstausweis.

Überraschung wurde sichtlich zu Bestürzung.

»Konnie, kommst du mal? Hier ist einer von der Polizei«, brüllte der junge Mann in den Wohnungsflur hinein.

»Das wird er gehört haben. Kann ich reinkommen?«

Der Rastafari trat von einem Bein aufs andere. »Was wollen Sie denn von uns?«

»Es geht um die Ermittlung bei einem Tötungsdelikt, Herr …«

»Mord?« Der Rasta-Man riss die blutunterlaufenen Augen auf. »Mit so was wollen wir nichts zu tun haben!«

»Wie war noch mal der Name?«

»Kortenbreede, Tobias«, sagte er brav, als wäre er auf dem Amt.

»Ich nehme an, Konnie hat die Joints jetzt weggeräumt. Darf ich reinkommen, oder möchten Sie mich lieber gleich aufs Präsidium begleiten?«

Als  sie  die  Wohnküche  betraten,  saß  Konnie  mit Unschuldsmiene am Küchentisch, auf dem eine angebrochene Tafel Schokolade lag. Durch das offene Fenster wehte Schnee herein.

Bent stellte sich fröstelnd vor.

Konnie grinste, zog sich die Kapuze seines Sweatshirts wieder vom Kopf und machte das Fenster zu. »Musste mal gelüftet werden.«

Er umklammerte einen historischen Kaffeebecher. A coffee a day keeps Reagan away. Ein Erbstück aus einer der Vorgänger-WGs? Kortenbreede, Tobias räumte einen Stapel taz-Zeitungen von einem abgewetzten Oma-Sofa. »Bitte.«

Bent sackte auf dem Sofa so weit nach unten, dass der Küchentisch sich auf der Höhe seiner Brust befand.

»Kissen gefällig?«, fragte Konnie zuvorkommend.

»Und Sie sind also Konstantin Bräuer?«

Bräuer warf seinem WG-Genossen einen Blick zu und nickte. »Worum …?«

»Ich denke, das wissen Sie bereits.«

»Nicht wirklich«, gab Bräuer zurück.

»Es geht um den Tod von Anna Borgstedt. Kannten Sie sie?«

Die beiden sahen sich an.

Kortenbreede  lehnte  an  einem  schönen,  alten  Küchenschrank, zupfte an seinem Bärtchen. »Nie gehört, Anna Borgstedt. Du?«

Bräuer schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin.

Bent war nicht ganz klar, worauf sich dieses Kopfschütteln eigentlich bezog. »Kannten Sie sie, Herr Bräuer?«

Er sah auf. »Nein. Ich … nein, ich kenne die nicht, ähm … kannte sie nicht.«

»Sie war erst sechzehn Jahre alt, als sie starb. Eine junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte. Sie war politisch engagiert  in  einer  dieser  Attac-Gruppen.  Linksalternative Szene. Und sie war mit Robin Domeyer zusammen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie Anna noch nie getroffen haben?« Bent legte ein Foto von ihr auf den Tisch.

Zögernd  warfen  die  beiden  einen  kurzen  Blick  darauf.

Bräuer schüttelte noch einmal den Kopf.

»Nö«, sagte Kortenbreede.

»Mit Mord wollen Sie nichts zu tun haben, stimmt doch, Herr Kortenbreede?«

Kortenbreede sah ihn an, als würde er gleich die Handschellen aus der Tasche ziehen. »Ich verstehe nicht …«

»Sie pokern regelmäßig mit Robin Domeyer?«

»Immer wieder gerne«, sagte Bräuer.

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gepokert?«

»Ist das verboten?« Kortenbreede ließ seine halb gedrehte Zigarette sinken. Tabak rieselte auf den Boden, der ohnehin nicht sehr sauber war.

»Am Sonntag«, sagte Bräuer und riss das Silberpapier der Schokolade in kleine Streifen.

Kortenbreede flutschte der Filter aus der Hand und gesellte sich zum Tabak auf dem Boden. »Genau. Ähm … Sonntag.«

Bent stemmte sich aus der Tiefe des Sofas, bückte sich nach dem Filter und reichte ihn Kortenbreede. Blieb vor ihm stehen, sodass der junge Mann zu ihm aufsehen musste. »Und zu welcher Zeit genau, Herr Kortenbreede?«

»Wie immer abends und dann bis zum Morgen«, antwortete Bräuer. »Also die ganze Nacht lang.«

Bent lächelte. »Gar nicht so einfach, sich eine mit Filter zu drehen.«

Kortenbreede stierte ihn an und dann die Sachen in seiner Hand, die sich nicht zusammenfügen wollten: Das Blättchen, den Filter, den Tabak. Er legte alles mit zitternden Händen auf die Anrichte.

»Wir kennen die Dame doch gar nicht«, bemerkte Bräuer und bügelte die Silberstreifen mit seinem Daumennagel.

»Sie wissen, wieso ich hier bin.« Bent ließ Kortenbreede nicht aus den Augen.

»Warum verraten Sie es uns nicht einfach?«, sagte Bräuer.

»Ich möchte es jetzt von Ihnen erfahren, Herr Kortenbreede«, begann Bent. »War Robin Domeyer am Sonntagabend zum Pokern bei Ihnen?« Er hob die Hand in Richtung Bräuer, damit der den Mund hielt.

Auf Kortenbreedes Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. »Robin pokert mit uns, einmal in der Woche.«

»Hat Robin Domeyer in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember, also vom letzten Sonntag auf den Montag mit Ihnen gepokert, Herr Kortenbreede?«

Kortenbreede schaute Hilfe suchend zu Bräuer. Der nickte kaum merklich.

»Robin hat mit uns gepokert«, hauchte Kortenbreede und hielt sich an der Anrichte fest.

»Von wann bis wann genau?«

Kortenbreede schaute ihn bestürzt an.

»Wann ist er gekommen, wann ist er gegangen? Der ungefähre Zeitpunkt oder der genaue«, erklärte Bent geduldig.

Bräuer räusperte sich. »Das kann ich Ihnen sagen …«

Bent bedeutete ihm mit einer Geste, zu schweigen.

»Ich erinnere mich nicht.« Der Adamsapfel an Kortenbreedes magerem Hals hüpfte auf und ab. »Ich habe gerade einen … einen Block.«

»Er ist um halb neun gekommen und um halb acht morgens gegangen!«, sagte Bräuer.

»Und wann ist er zu Ihnen gekommen, um sein Alibi mit Ihnen durchzusprechen, Herr Bräuer?«

»Hat Robin … Robin hat doch nichts …« Kortenbreede schlang die Arme um die magere Brust.

»Ich muss Sie beide bitten, zur Vernehmung mit aufs Präsidium zu kommen.«

 

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© Heike Rommel