Leseprobe "Kalte Liebe"

Auszüge aus dem 3. Kapitel

 

Samstag, 26. Oktober 2013

 

Es war ungewöhnlich still, bis sie die Glastür zu ihrem Büroflur öffnete.

»… aus dem Obduktionsbericht. Sie hat viel Blut verloren und wäre wohl verblutet, wenn sie nicht vorher erwürgt worden wäre. Die massiven Verletzungen lassen vermuten, dass sie mit einem stumpfen Gegenstand vergewaltigt worden ist.« Nina hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch sie blieb wider Willen stehen. Die Tür zum Besprechungsraum stand offen und gab den Blick auf einen unglücklich dreinschauenden Bent frei. »Leider gibt es keine Spermaspuren. Dafür fanden sich Holzsplitter im verletzten Gewebe. Die Rechtsmedizinerin meint, es könnte sich um etwas wie einen Baseballschläger gehandelt haben …«

Nina entfuhr ein Stöhnen.

»Nina?« Oje, Bent hatte sie bemerkt. »Komm doch rein, wenn du … falls du …«

Und das alles nur wegen dieser blöden Sporttasche. Sie trat ein und lächelte in die Runde, nickte Dodo und Frank zu, begegnete einem Blick aus mandelförmigen, braunen Augen unter kräftigen, dunklen Brauen. Das musste der neue Kollege sein. Dichtes, dunkles Haar, ein kurzer Bart, und ein Gesicht, das Entschlossenheit ausstrahlte, Verbindlichkeit. Dominik, der neben ihm saß und mit seinen dunklen Locken und großen, braunen Augen von den Kolleginnen als schönster Mann der Kripo gehandelt wurde, wirkte dagegen weich und melancholisch, fast feminin. Wie erwartet, hatte der Neue, den Bent als »Roman Nolte« vorstellte, einen festen Händedruck. Und er weiß genau, wie gut er aussieht, dachte Nina, während sie sein Lächeln erwiderte.

»Und das ist unsere Kollegin Nina Tschöke«, fuhr Bent fort. »Eine unserer besten Mordermittlerinnen.«

Nina schüttelte verlegen den Kopf.

»Recht hat er.« Dominik zwinkerte ihr zu. »Setz dich doch.«

Frank runzelte die Stirn. »Hey, Nina hat Urlaub. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst auf Malle.«

»Mein Flieger geht erst heute Abend.«

»Magst du einen Kaffee?« Dominik stand auf, ging zu dem Teewagen und hob die Thermoskanne hoch. »Mit Milch, wie immer?«

»Ja, aber nur kurz …« Sie setzte sich und nahm die Tasse entgegen. Verstohlen musterte sie Roman Noltes Kaschmirpullover, die teure Jeans, die blank polierten, schicken Lederschuhe und tastete unwillkürlich nach ihrem etwas schief geklebten Brillenbügel.

»Schön … ja … wir sind gerade bei dem neuen Fall«, erklärte Bent überflüssigerweise. »Ich mach dann mal weiter. Die Verletzungen an den Innenseiten der Handgelenke des Opfers stammen wahrscheinlich von Handschellen. Sie könnten entstanden sein, als das Opfer versucht hat, sich loszumachen, also Druck ausgeübt hat.«

»Würde man sie dann nicht eher an den Außenseiten vermuten?«, warf Nina ein. »Es sei denn, das Opfer war mit beiden Händen an zwei Bettpfosten oder Haken gefesselt und hing quasi in den Handschellen.«

Bent nickte. »Das ist ein guter Punkt.«

»Klingt nach Sadomaso-Spielen, die aus dem Ruder gelaufen sind«, sagte Frank. »SM scheint ja groß in Mode zu sein. Dieser Fifty Shades of Grey-Schinken geht weg wie warme Semmeln, stimmt‘s?«

»Hm«, machte Dominik. »Aber welches fünfzehnjährige Schulmädchen würde freiwillig SM-Spiele mitmachen? Ich tippe darauf, dass sie ein Zufallsopfer war, das der Täter in seine Gewalt gebracht hat. Und so brutal wie das Ganze abgelaufen ist, muss der Mann hochgradig gestört sein.«

Nina nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Der Kaffee war stark. »Ein Täter, der Frauen hasst? Es gibt keine Spermaspuren, nur Holzsplitter. Vielleicht ist er impotent und lässt seine Opfer dafür büßen.«

»Bisher gibt es keinen Hinweis auf weitere Opfer. Ich bin immer für Brainstorming, doch wir sollten uns nicht zu weit von dem entfernen, was wir zurzeit wissen«, sagte Bent.

Dominik seufzte. »Wir versuchen nur, uns eine Vorstellung zu machen. Ich bin kein Profiler, aber ich würde sagen, wir suchen einen sexuellen Sadisten, der vermutlich deutlich älter ist als das Opfer, etwa zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahre alt.«

Roman Nolte zog die Brauen zusammen. »Können wir denn eine Beziehungstat ausschließen? Etwa die Rache eines Ex-Freundes? Oder jemand, den das Opfer abgewiesen oder anderweitig gekränkt hat?«

»Frau Campmann«, Dominik wandte sich an Nina, »das ist die Mutter des Mordopfers, hat keinen Freund oder Ex-Freund erwähnt.«

Roman grinste. »Hast du deiner Mutter in dem Alter alles erzählt, was du so treibst?«

Dominik lachte auf, Bent lächelte. Frank verzog keine Miene. Er hockte tatsächlich so schlecht gelaunt hinter seinem Aktenführer-Rechner, wie Dominik berichtet hatte.

Bent spielte mit seinem Filzstift. »Gut möglich, dass wir es mit einem psychisch gestörten Täter, einem Narzissten oder Sadisten zu tun haben. Andererseits käme auch ein Täter infrage, der den Mord nur wie ein Sexualdelikt aussehen lassen wollte. Immerhin fehlen Spermaspuren. Ich würde sagen, noch ist alles offen.«

 

 

»Für die aus unserer Klasse waren wir nur die beiden aus dem Brennpunktviertel. Die Prolls sozusagen. Wir haben beide keinen Vater, mit dem wir angeben können. Also mein Vater hat ja ein Bauingenieurunternehmen.« Sie äffte einen gezierten Tonfall nach. »Und mein Vater ist Chefarzt und mein Vater … blablabla und dann geht’s im Winter da und da hin zum Snowboarden und im Frühjahr zum Shoppen nach New York … blablabla und von welcher Marke sind eigentlich deine Klamotten, ach, von der habe ich noch gar nichts gehört, sag mal, kaufst du den Schrott etwa bei Kik ein, oder wie?«

»Ihr wurdet ausgegrenzt?«, fragte Nina.

»Bei ihr war‘s schlimmer. Ich steh sowieso nicht auf schöne Kleidchen und so was, ist mir zu angepasst. Für mich war immer klar, ich passe da nicht rein. Die haben das von mir gekriegt!« Sie zeigte die Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger. »Ich hab mir andere Freunde gesucht, nicht solche, die sich von Mama mit dem Mutti-Panzer in die Schule kutschieren lassen, sondern solche mit politischem Bewusstsein! Aber Charly hatte es echt schwer.«

»Mutti-Panzer?« Nina schmunzelte.

»Na, Sie kennen doch diese Helikopter-Muttis, die am liebsten einen fetten Geländewagen fahren, als wären sie in der Wüste Gobi unterwegs oder was.

»Hatte Charlotte Feinde in der Klasse?«, fragte Roman.

Miriam straffte sich. Ihre Augen funkelten. »Kann man wohl sagen. Das Oberarschloch Vincent und seine Unterarschlöcher! Die haben sie gemobbt!«

Um Romans Mundwinkel zuckte es. »Hat Vincent auch einen Nachnamen oder heißt er nur Oberarschloch?«

Miriam zog eine Grimasse. »Oberarschloch reicht bei dem! Die haben ihren Kopf auf die Körper von Pornoqueens montiert und die Bilder im Internet verbreitet. Von wegen, was sie für eine Schlampe wäre. Das ging in der ganzen Schule rum.«

Nina schüttelte den Kopf. »Und wieso? Weil sie Sachen von Kik trug?«

»Quatsch, Charly konnte eigentlich anziehen, was sie wollte, sie sah immer super aus. Vincent, das Obera … Spiekerkötter hat sie angebaggert, und sie? Sie hat es gewagt, ihn abblitzen zu lassen. Ihn, den angesagten König der Klasse, den geilen Supersportler, immer Teil vom neusten heißen Scheiß. Der mit dem allercoolsten Vater überhaupt.«

»Und dieser Alphajunge hat ihr das nicht verziehen?«, fragte Roman.

 

 

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© Heike Rommel