Auszug aus dem 1. Kapitel
Marleen Seismo wachte mit einem Ruck auf. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Durch die Rollläden schimmerte Licht. Hatte ein Geräusch sie geweckt oder … sie schaute unwillkürlich auf das nachlässig gemachte Bett neben ihr. Aber Ronnie schlief seit einiger Zeit auf dem Bettsofa im Gästezimmer. Der Digitalwecker zeigte erst 08:02 Uhr, also noch fast zweieinhalb Stunden, bis ihr Zug vom Kölner Hauptbahnhof nach Bielefeld abfuhr. Sie ließ sich zurück in die Kissen sinken, gähnte laut, rollte sich in ihre Decke ein und dachte an die Probe gestern Abend. Früher war die Band danach immer noch einen trinken gegangen. Inzwischen hatte niemand mehr Lust dazu. Kein Wunder bei der gereizten Stimmung. Sie seufzte und wälzte sich auf die andere Seite. Auch so war es spät genug geworden. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Draußen zwitscherten die Vögel, und eine Straßenbahn ratterte vorbei. Der Briefkastendeckel klapperte: Die Zeitung war wohl gekommen.
Wie sollte man bei diesem Lärm schlafen? Marleen warf die Decke ab, zog den Morgenmantel an und tappte zum Flur. Aus dem Kinderzimmer drang kein Laut. Jette und Matti übernachteten bei Marleens Eltern, wie immer, wenn sie probten, aber sie konnte es nicht lassen, ging in das Zimmer und drückte ihre Nase tief in die Kopfkissen der Kinder, um ihren Duft zu erhaschen. Sie setzte ein Mobile mit Wichteln in Bewegung, nahm eine von Jettes Puppen aus dem Bett und wanderte in dem Zimmer auf und ab. Es würde nicht mehr lange dauern. Sie holte tief Luft. Alles würde gut werden. Die anderen würden mitziehen. Jedenfalls der größte Teil der Band.
Und Bielefeld war vertraut. Lang ist´s her, dachte sie und zog das Foto vom letzten Klassentreffen aus der Tasche ihres Morgenmantels. Als sie Jettes Puppe zurück aufs Bett legen wollte, erschrak sie. Sie hatte ihr geistesabwesend einen Teil der Haare ausgerissen. Sorry, Jette, du kriegst eine Neue. Sie wandte sich dem Foto zu, das Frauke und Wolf-Dieter mit der Einladung geschickt hatten, ließ ihren Blick über die lächelnden Durchschnittsgesichter wandern … sie konnte sich bei einigen nicht mal mehr an die Namen erinnern. Marleen nahm sich vor, im Zug zu versuchen, den Gesichtern Namen anhand der mitgeschickten Liste zuzuordnen. Frauke hatte geschrieben, dass sich alle unglaublich freuten, dass sie zum fünfzehnjährigen Abi-Jubiläum endlich mal kommen würde. Alle? Da war sie sich allerdings nicht so sicher …
Egal, es gab immerhin einen in Bielefeld, auf den sie sich freute. Sie lächelte ihrem Bild in dem verspiegelten Schrank zu, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Sie sah trotz der dunklen Augenringe immer noch gut aus. Ja, sie würde es schaffen! Natürlich, und in ein paar Wochen würde sie über diesen ganzen Ärger lachen!
Sie unterdrückte ein Gähnen und tappte zur Haustür. Die Zeitung steckte so dämlich im Kasten, dass sie sie von außen rausziehen musste. Sie machte die Tür auf, trat in etwas Weiches und stieß einen spitzen Schrei aus, als sie die tote Ratte unter ihrem bloßen Fuß entdeckte. Ein alter Mann mit Häkelmützchen und Bart, der gegenüber an der Straßenbahnhaltestelle wartete, warf ihr einen Blick aus schmalen Augen zu. Marleen sah sich einen Moment lang so, wie er sie sehen musste: Im Morgenmantel, mit zerzauster blonder Mähne. Sie rammte die Tür zu. Oh Gott! Diese Ratte … das konnte nur der Irre gewesen sein! Letzten Samstag hatte sie ihn wieder bei einem ihrer Auftritte gesehen.
Auszug aus dem 4. Kapitel
Das Rascheln lenkte ihn ab. Er blieb stehen und spürte, wie er schwitzte. Dann drehte er sich um. Da war niemand, oder? In dem schwindenden Licht konnte er nicht mehr viel erkennen. Er hörte sich selbst schnaufen und das leise Rauschen des Verkehrs vom Ostwestfalendamm.
Mit steifen Schritten ging er weiter. Es gab verschiedene Abzweigungen hier, und eigentlich kannte er den Weg, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Er ging schneller und hörte es wieder rascheln, dann blieb er stehen, und es raschelte nicht mehr. Das waren keine Igel! Kai rannte los. Als er die teilweise überwucherten Mauern ausmachen konnte, wusste er, dass er sich unterhalb des Seerosenteichs befand. Er warf einen ängstlichen Blick auf die Anlage mit den Bänken. Sie waren leer, ebenso wie die beiden hölzernen Liegestühle, aber wer sollte sich in der Dämmerung schon sonnen?
Er hastete die kurvigen Wege entlang und merkte mit einem Mal, dass seine Tasche offen stand. Sie fühlte sich auch nicht mehr so prall an wie vorher. Etwas musste herausgefallen sein. Er lief noch ein paar Schritte weiter, hielt inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nina würde sauer sein. Sollte er umkehren und suchen? Da war es wieder, das Rascheln! Doch er konnte schon die großen, immergrünen Büsche mit dem schwierigen Namen erkennen und die gestreiften Barrieren am Ende des Weges. Am liebsten hätte er die ganze Tasche weggeworfen, um schneller laufen zu können. Er wollte rasch den Reißverschluss der Tasche zuziehen, aber er fand das blöde Ende nicht in der Dunkelheit. Kurzerhand klemmte er sich das Ding unter den Arm und stolperte weiter. Die Barrieren kamen nur ganz langsam näher. Endlich war die Straße in Sicht, schwach beleuchtet von Laternen. Keuchend bog er nach links ab und wäre fast gegen einen parkenden Wagen geprallt. Als er das Licht im Küchenfenster sah, stöhnte er leise vor Erleichterung.
Kai klingelte Sturm. Er schaute über seine Schulter. An der gegenüberliegenden Straßenseite flammten die Schweinwerfer eines Autos auf.