Auszug aus "Der Leichenschmaus" von Heike Rommel
Der Leichenschmaus
Ich habe vor drei Wochen eine Wohnung im Erdgeschoss eines Hauses in Bielefeld-Hoberge bezogen. Beste Wohngegend. Als hart arbeitender IT-Fachmann
genieße ich die abendliche Ruhe am Rande des Teutoburger Waldes – kein Vergleich mit der lärmigen Innenstadt, in der ich vorher wohnte. Jedenfalls rede ich mir das jeden Tag ein, bevor ich ins Kissen
heule oder den Boxsack bearbeite oder die Körperübung ‚Beruhigendes Klopfen‘ ausführe. Ich bemühe mich, positiv zu denken – nach meiner Trennung kurz vor Weihnachten, dem ‚Fest der
Liebe‘.
Heute Morgen – malerische weiße Flocken trudeln in den Vorgarten - finde ich ein Päckchen für meinen Vormieter Heinz Bensiek vor der Tür, verziert mit Nikolausaufklebern. Offensichtlich hat er keinen
Nachsendeantrag gestellt, und ein Absender ist nicht angegeben. Leider kenne ich Herrn Bensiek und seine neue Adresse nicht. Auch in der Kiste mit Gerümpel, die er im Keller hat stehen lassen, finde
ich keinen Anhaltspunkt - nur eine Rolle Müllsäcke, Malerutensilien und ähnlichen Krempel.
Also rufe ich die Vermieterin an und erfahre, dass sie von ihm keine neue Anschrift erhalten habe – stattdessen einen Pauschbetrag von 300,- Euro, um einen möglichen Minusbetrag bei der
Nebenkosten-Abrechnung auszugleichen. Er benötige weder die Schlussrechnung noch müsse sie ihm den Differenzbetrag erstatten. Seine Frau Anneliese und er würden im Ausland ein neues Kapitel
aufschlagen. Mehr wisse sie nicht.
Was kann schon in einem Weihnachtspäckchen sein? Selbst gestrickte Socken und Spritzgebäck von Tante Walburga? Dennoch, warum schickt niemand mir ein Päckchen zu Weihnachten? Habe ich nicht auch eins
verdient, nach dem, was ich in den vergangenen Wochen durchgemacht habe?
Heute, am Dienstag, dem 23. Dezember, habe ich alle Hände voll mit Einkaufen und Putzen zu tun. Am Heiligabend erwarte ich die gesamte Familie zum Weihnachtsessen. Sie haben zugesagt, Eltern, Bruder,
Schwägerin und Kinder - sogar meine Schwester, die sonst kneift, weil ihr Weihnachten zu spießig ist. Ich könnte mir vormachen, sie wären neugierig auf meine neue Wohnung. In Wahrheit ist es
Mitleid.
Die Trennung von Michelle war traumatisch. Sie hat mich nach drei Jahren, fünf Monaten und siebzehn Tagen für meinen besten Freund Tim verlassen. Meinen ehemals besten Freund. Der werde jetzt an
meiner Stelle bei ihr einziehen. Nach dem Abklingen des Schocks und der darauffolgenden depressiven Episode dachte ich: perfektes Timing, Michelle! Nachdem ich die Altbauwohnung in der Ravensberger
Straße in meinem Jahresurlaub für uns renoviert habe, darf ich gehen.
Was soll ich mit dem Päckchen anstellen? Erst einmal fahre ich zum Supermarkt. Als ich vor dem Regal mit den Schoko-Nikoläusen stehe, denke ich kurz darüber nach, mir selbst einen zu schenken. Ich
soll mir regelmäßig etwas Gutes tun, rät mein Therapeut. Aber nein, ich käme mir vor wie Mr. Bean, der sich selbst Weihnachtspostkarten schickt. Auf dem Rückweg reift ein Entschluss in mir und zu
Hause reiße ich das Päckchen auf. Sorry, Heinz, aber bis das Teil im Ausland ankommt, sind die Schoko-Kekse hinüber, wetten?
Ich finde zerknülltes Packpapier und einen Umschlag mit der Aufschrift Für Heinz. Ob der beiliegende Brief Aufschluss gibt, von wem die Sendung stammt? Außer einem Schließfachschlüssel von einer
Gepäckaufbewahrung am Bahnhof und einem Zettel mit einer kryptischen Botschaft: Auftrag erledigt. Erwarte weitere Zahlung zur vollständigen Bes., D. entdecke ich nichts.
Wo sind meine Plätzchen? Ich fühle mich betrogen – ein Empfinden, das sich mühelos einfügt in die Erlebnisse der letzten Wochen. Andererseits, was befindet sich wohl in dem Depot? Orthopädische
Strümpfe für Heinz? Ein Anti-Dekubitus-Sitzkissen? Meine Fantasie kennt keine Grenzen, am Ende bin ich bei Geldbündeln, Koks und gefälschten Rolex Uhren angelangt. Der Dienstag vergeht mit
Erledigungen und Imaginationen ungeahnter Schätze. In der Nacht träume ich von einem geheimnisvollen Schließfach, dem Michelle entsteigt. Sie trägt ein durchsichtiges Negligé und bittet mich um
Verzeihung.
An Heiligabend halte ich es nicht mehr länger aus ...
Tja, wie geht es weiter? Eines kann ich schon verraten: Es wird ein sehr denkwürdiges Weihnachten für meinen Protagonisten ...