Leseprobe aus "Abgrund aus Schweigen"

Auszüge aus dem ersten Kapitel
(Freitag, der 17. Januar 2024)

 

Das jungfräuliche Weiß des Schnees im Kunsthallenpark, der sich an diesem Morgen wie eine gnädige Decke über das grau-braun-schwarze Winterelend gelegt hatte, war bereits befleckt von Hundekot, matschigen Spuren, Brötchentüten und anderem Müll. Mark entdeckte sogar ein gebrauchtes Kondom. Seine teuren Lederschuhe wiesen – jetzt, am Ende seiner Mittagspause – Salzränder auf. Er fluchte, vergrub die Hände in den Taschen seines Wollmantels und stemmte sich gegen den eisigen Wind. Normalerweise zog er sich Outdoor-Boots an, wenn er bei diesem Wetter vom Parkplatz hinter der Kunsthalle zum Mittagessen ins Kachelhaus marschierte. Vergessen.
Split knirschte unter seinen Sohlen, und ihn drückte ein Steinchen, das sich im Schuh verirrt hatte. So wie das verdammte Video, das es längst nicht mehr geben sollte, sich am Vormittag zurück in sein Leben verirrt hatte! 
Mark stapfte am Eingang der Kunsthalle vorbei, und eine Frau kam ihm entgegen - mit grün gefärbten Haaren und ausladenden Hüften, über denen sich ihre Leggings unter der kurzen Daunenjacke spannte. Ihre Schenkel rieben beim Gehen aneinander. Unfassbar, wie der Pöbel rumlief. Besser gleich löschen, was, Mark? So lautete die Nachricht, die mit dem Scheiß-Film auf seinem Handy angekommen war. Egal, wie lange er darüber grübelte, er konnte sich das nicht erklären. Es sei denn, dieser verdammte Versager war derjenige, der die Kamera mit dem Video gestohlen hatte …

 

***

 

Der Nachmittag zog sich, die frühe Dunkelheit machte es nicht besser. Janka verabschiedete sich pünktlich um 16 Uhr. Er arbeitete eher unkonzentriert an Objektpräsentationen und dachte zwischendurch immer wieder an den Film. Und daran, dass er ausgerechnet heute Abend, an einem Freitag, um 19 Uhr noch einen späten Makler-Termin haben musste! Aber so wurde er diese zugige Bruchbude hoffentlich endlich los. Der Eigentümer hatte völlig unrealistische Vorstellungen, für welchen Betrag er den heruntergekommenen, umgebauten, alten Hof, dessen Energieausweis die allerschlechteste Energieeffizienzklasse auswies, verkaufen konnte, und er rückte nicht ein Jota davon ab. Beratungsresistent. Für ihn lag der Grund dafür, dass er das Haus noch nicht für einen guten Preis an den Mann gebracht hatte, an Marks angeblich mangelhaftem Engagement.
Die »naturnahe Immobilie für Liebhaber, mit Charme und Charakter«, wie er sie seit fast einem Jahr anpries, erinnerte ihn an ein verwinkeltes Spukhaus, das zu der Schnalle passte, die sich ihrer Aussage zufolge seeeehr dafür interessierte. Seltsame Type. Stark geschminkt, blass, mit langen Haaren, die in einem satten, künstlich wirkenden Rotton glänzten. Sie hätte mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen attraktiv sein können, aber er bevorzugte Frauen mit Kurven an den richtigen Stellen. Davon abgesehen strahlte sie etwas Unangenehmes aus, ohne dass er den Finger drauf hätte legen können, was es war. Und irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. Nur erinnerte er sich nicht daran, ihr jemals begegnet zu sein. 

 


Auszug aus dem vierten Kapitel

(Montag, der 20. Januar)

 

Zu Hause kam er gerade aus der Dusche, als um Punkt zehn Uhr sein Diensthandy klingelte. Eine wohlbekannte Nummer. Er ging damit ins Arbeitszimmer und nahm den Anruf an.
»Guten Morgen Mark, ich …«
»Florian?«
»Sabrina?« Er konnte die Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er kühl.
»Ich wollte dir nur mitteilen, dass du einen Mandanten weniger hast.« Sie klang ebenso frostig. 
»Ab…« Florian stockte. Hatten die beiden sich wider Erwarten versöhnt? Das war kaum zu glauben. »Was genau willst du mir sagen?«
»Mark ist tot. Er hat mir immer gedroht, rate mal, mit wem?«
»Tot?« Langsam sank er auf seinen Schreibtischstuhl. Wie war das möglich? »Sabrina, ich habe jetzt wirklich kein Interesse an Ratespielen. Sag mir einfach, was los ist! Ich habe gerade erst vor einer Woche mit ihm telefoniert, da klang er noch ganz munter.«
“Munter – allerdings! Wie hat Mark sich ausgedrückt? ›Der Beste in seinem Fach und ein alter Freund dazu - du wirst sehen, Sabrina, das Sorgerecht für Elias kannst du vergessen, solltest du auch nur daran denken, dich zu trennen.‹«
Florian holte tief Luft. »Du weißt, es ist genau andersrum: Mark wollte dich verlassen. Aber das hätte dich nicht nur mit ziemlicher Sicherheit das Sorgerecht für Elias gekostet, sondern auch das Ende deines aufwändigen Lebensstils bedeutet! Das ist der Grund, warum du nie auch nur im Traum daran gedacht hättest, dich von deiner Melkkuh zu trennen. War es ein Unfall, Sabrina? Hast du vielleicht nachgeholfen?«
»Bist du verrückt geworden? Mark ist tot aufgefunden worden in einem Haus, das er verkaufen sollte.« 
»Einfach so?«
»Mehr sagen die nicht, also die Kripo.« Sie lachte auf. »Pech für dich, Florian, dass dir so ein lukratives Mandat durch die Lappen geht.«
Die Kripo? Das wurde ja immer schlimmer. »Du scheinst tieftraurig über den Tod deines Mannes zu sein. Hast du der Polizei schon erzählt, was für ein ungemein glückliches Paar ihr wart?«
»Wenn ich recht darüber nachdenke, leben Anwälte für Familienrecht wie Parasiten vom Leid anderer Leute, ist das nicht so?«
Er spielte mit dem Brieföffner. »Du warst im Begriff, alles zu verlieren. Sein Tod ist die beste Lösung für dich, nicht wahr, Sabrina?«
»Du weißt genau, dass Mark sich nicht nur Freunde gemacht hat. Nicht alle seiner Kunden waren zufrieden.«
»Hast du jemanden damit beauftragt? Etwa seinen Cousin?«
»Meinst du Patrick? Mach dich nicht lächerlich, Florian! Dieser Loser? Was hätte er davon? Wenn Patrick sich hätte rächen wollen, hätte er das doch schon tun können, nachdem Mark ihm den Kredit für die Neueröffnung seines Tattoostudios verweigert hat!« 
»Loser? Ich bin neulich mit meiner Frau nach Herford zum Friedhof gefahren, weil sie sich um das Grab ihrer Tante kümmern wollte. Und was habe ich da entdeckt? Ein nagelneues Tattoostudio auf den Namen Patrick Kristen! Ruhige Straße, direkt am Aawiesenpark. Ich bin spaßeshalber mal reingegangen, es machte einen schicken Eindruck, schöner Eingangsbereich, eine Art Empfangsdame mit Terminkalender - seine Freundin, nehme ich an. Sie hat ihn dann für mich gerufen, wir haben ein bisschen geplaudert über alte Zeiten, es scheint dem ›Loser‹ ziemlich gutzugehen und das, obwohl er bestimmt nicht kreditwürdig ist. Hat er das Geld etwa von dir?«
»Wieso von …? Das muss ich mir nicht anhören!«
»Ich denke, Sabrina, die Polizei sollte wissen, dass du den Sorgerechtsstreit verloren hättest, und auch, warum!«
Es knackte in der Leitung. Sie hatte aufgelegt. Florian warf den Brieföffner auf die Schreibtischunterlage und lehnte sich zurück. Die Kripo würde nicht ermitteln, wenn es sich um einen natürlichen Tod handelte. Aber womöglich war das eine Routinesache, sie rückten erst mal an, und bei der Obduktion würde sich dann ergeben, dass es ein Herzinfarkt gewesen war. Und falls nicht? Was bedeutete das? Wollte sich Sabrina auch an ihm rächen, weil er Marks Anwalt in dieser Sache war? Er spürte ein plötzliches Brennen in seinem Magen und krümmte sich. Schweiß trat auf seine Stirn.
»Schatz?«
Florian schaute auf. 
Seine Frau Ann-Christin war ins Arbeitszimmer gekommen. »Wie siehst du denn aus? Ganz blass …«

 

 

 

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© Heike Rommel